Die Realität … ist absurder als jeder Film
Was bedeutet es, in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die „Heimat“ nicht fest mit einem Ort verbindet, sondern das Unterwegssein als identitäts¬stiftend erfährt? In der Ausstellung „Die Realität … ist absurder als jeder Film“ beleuch-ten fünf in Israel geborene Künstler*innen mit je einem opulenten Videofilm und begleitenden Bildwerken höchst unterschied-liche Lebenswelten, deren Faszinationskraft man sich kaum entziehen kann. Voller Fabulierlust und mit untergründigem Witz erzählen Yael
Bar¬tana, Guy Ben-Ner, Keren Cytter, Omer Fast und Roee Rosen von reli¬giösen Kultorten, vom Kampf gegen den Staub und allgegenwärtigem Kriegsgetöse, von der Sinnsuche und märchenhaften Erscheinungen.
Drei große Kinosäle, ein Bildschirmraum mit Sitzlandschaft und eine ungewöhnliche Kulisse für einen VR-Film bilden die Basis für eine komplexe Ausstellung fünf israelischer Künstler*innen, deren Filme um Zeichnungen und Fotos ergänzt werden. Alle Geschichten sind von einem besonderen Grundton, einer unter der Oberfläche lauernden Sehnsucht und in einer den Dingen selbst manife-stierten Suche geprägt. Mit Humor und großer Geste thematisieren sie die Brüchigkeit der gesell-schaftlichen Ordnung, ihre innere und äußere Bedrohung, die kaum überschaubare Vielstimmigkeit und die Energien des Aufbruchs.
Gleich zu Beginn der Ausstellung empfängt das Publikum bereits ein eigenartiges Arrangement: Eine freundliche Person in weißem Kittel, die das Ticket kontrolliert, einen inter¬essanten Rund¬gang wünscht und zudem eine „besondere Behandlung“ in einem eigenen Raum offeriert. Dafür allerdings ist ein medizinischer Fragebogen auszufüllen, bevor es den strahlend weißen Flur eines Kliniktrakts hinuntergeht: Man befindet sich in der atmosphärischen Rahmenhandlung für das neueste Videopro-jekt von Omer Fast (*1972 in Jerusalem, lebt in Berlin). Als europäische Urauf¬führung präsentiert der international erfolgreiche Künstler seine aufwändige Virtual Reality-Produktion „The invisible Hand“, die die Motivik eines alten jüdischen Märchens in die Gegenwart chi¬nesischer Vorstädte überträgt. Durch die 360 Grad-Optik wird man direkt in die wundersame Geschichte vom plötzlichen Wohlstand und dem darauf folgenden sozialen Abstieg einer einfachen Familie hineingezogen.
Für „Inferno“ von Yael Bartana (*1970 in Kfar Yehezkel, lebt in Berlin/Amster¬dam) wiederum wurde der Marta-Dom in ein Großkino verwandelt. Auf einer 45 qm-Leinwand nimmt sie den 2014 fertiggestellten „Tempel Salomons“ in São Paulo zum Anlass für ihre bildgewaltige Version der feierlichen Einweihung und anschließenden Zerstörung dieses anmaßenden Architektur-
exports nach Südamerika. Immer wieder beschäftigt sich Bartana in ihren Videoinstalla¬tionen und Fotografien mit dem komplexen Verhältnis von Symbolen und Erinnerung, von Individuum und Gesellschaft in männerdominierten Strukturen.
In einer einladenden Sitzlandschaft wird der Film „Middle of Beyond“ von der in New York lebenden Künstlerin Keren Cytter (*1977 in Tel Aviv) vorgeführt. Im Mittelpunkt steht Malte Krumm, Anfang 30, der in Berlin von einer Karriere als Poet träumt. Auf der Flucht vor der Wirklichkeit und der verzweifelten Suche nach sich selbst, irrt die Hauptfigur haltlos durch ihr Leben zwischen seltsamen Begegnungen in der Stadt und der Selbstentblößung in den sozia¬len Medien. Diese absurde, colla-genhafte Atmosphäre vermitteln auch die Zeichnungen Cytters, die ebenso wie die modernen Fabeln von Guy Ben-Ner (*1969 in Ramat Gan, lebt in Tel Aviv) die Videopräsentation begleiten. Mit Witz und viel Liebe zum Detail parallelisiert letzterer die allgegenwärtige Kriegsbedrohung mit seinem zunehmend zum Katastrophengebiet werdenden privaten Haushalt. Die Geräuschkulisse dieses Films „Soundtrack“ bildet ein Audio-Ausschnitt aus dem Hollywoodfilm „Krieg der Welten“.
Der Maler, Autor und Filmemacher Roee Rosen (*1963 in Rehovot, lebt in Tel Aviv) schließlich präsentiert noch einmal seinen Film „The Dust Channel“, der schnell zum Geheimtipp der letzten documenta in Kassel wurde: Mit Operettengesang und allerlei skurrilen Szenen erzählt das Werk vom Kampf eines jungen Ehepaares gegen den allgegenwärtigen Staub, bei dem ein beutelloser Staubsauger zum Heilsbringer gegen das von außen eindringende Fremde wird. Darauf aufbauend sind das Storyboard und weitere Zeichnungen des Künstlers zu sehen, der sein Publikum mit einer ungewöhnlichen Mischung aus Politik, Humor, Erotik und Zeitgeschehen immer wieder neu herausfordert.
„Diese Geschichten über Vertreibung, Gewaltbedrohung oder freiwillige Aufbrüche“, so Marta-Direktor Roland Nachtigäller, „haben sicher alle ihre Wurzeln in der israelischen Gegenwart, charakterisieren aber zunehmend auch den Zustand eines Europas im tiefgreifenden Wandel.“