Haltung & Fall — Die Welt im Taumel

In einer scheinbar ins Wanken geratenen Welt wächst die Forderung, eine klare Haltung zu beziehen. Dies kann auf der Suche nach Orientierung eine Hilfe sein, aber genauso eine Bedrohung. Denn je größer die Anspannung und die Konzentration auf den eigenen Standpunkt, desto schneller läuft man Gefahr, ins Taumeln zu geraten. Zwischen politischer Aufladung und poeti-scher Auflösung widmen sich die Künstler*innen der Ausstellung

„Haltung & Fall – Die Welt im Taumel“ (29.06. – 06.10.19) der Widersprüchlichkeit dieses Begriffspaars. Anhand von Fotografien, Malereien, Zeichnungen, Skulpturen, Installationen, Videos und Performances entwerfen sie eindrückliche Bilder von sich aufbäumenden und fallenden, von schwebenden und schwankenden Körpern als Echo der Gesellschaft.
„In der Haltung des Körpers verrät sich der Zustand des Geistes. Durch die Körperbewegung spricht gleichsam des Geistes Stimme.“ Ambrosius
Ob Genderdebatten, Klimawandel oder die Zukunft Europas: Jede*r Einzelne*r ist innerhalb der gesellschaftlichen Umwälzungen gefordert, die bestehenden Strukturen zu hinterfragen und eine Position einzunehmen. Aus körperlicher Sicht ist das Beziehen einer Haltung endlich, da die Schwerkraft jeden noch so starken Körper irgendwann überwältigt. Überträgt man eine starre Haltung auf die geistige Ebene, kann dies eine Bewegungsunfähigkeit im Denken be-deuten und so die Sichtweisen auf andere, vielleicht interessantere Perspektiven einschränken.

Das Spiel mit der körperlichen Anspannung, der Pose und ihrer Auflösung ist seit jeher auch Thema der Kunstgeschichte. Ausgehend von dieser Bildtradition beschäftigen sich mittlerweile immer mehr zeitgenössische Künstler*innen mit Gegensatzpaaren wie Haltung und Fall, Spannung und Entspan-nung, Kontrolle und Kontrollverlust. Maximal überspannte, theatral inszenierte, kämpfende und vor Erschöpfung strapazierte Leiber rücken dabei in den Fokus der Werke, die als Symbolbilder für eine existenzielle Befragung des Seins stehen. Dazu einige Beispiele:

Die Installation „Limits of Control“ (2012) von Robert Barta (*1975, Prag) wird durch das Betreten von Besucher*innen aktiviert. Ein Raum, gefüllt mit 500.000 Eisenkugeln für gängige Kugellager, fordert dazu auf, die eigene Haltlosigkeit zu testen. Mal strauchelnd, mal bewegungsunfähig oder elegant gleitend lassen die Beteiligten fernab aller Konventionen eine neue und eigene Ordnung im Chaos entstehen.
Die Körper der jungen Hip-Hop-Tänzer aus der Fotoserie „La Chute“ (2005 – 2006) von Denis Darzacq (*1961, Paris) scheinen den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen. Vor der urbanen Kulisse von Paris bewegen sich die beeindruckenden Posen zwischen Anspannung und Kontrollverlust fast schwerelos über der Bodenoberfläche.

Wer hält hier die Fäden in der Hand? Tänzer*innen, Uniformierte, Clowns sowie Fabel- und Tierwe-sen bevölkern die bizarren und schaurigen Raummodelle von Marcel Dzama (*1974, Winnipeg). Inmitten eines karnevalesken Treibens erzählen die Installationen von Unterdrückung und Gewalt, während die Protagonisten in ihren starren Posen verharren.
Die Interaktion mit dem Menschen steht bei der Installation „Stage“ (2017) von Christian Falsnaes (*1980, Kopenhagen) im Mittelpunkt: Die Besucher*innen erhalten über Kopfhörer Handlungsan-weisungen, die sie auf einer Bühne umsetzen sollen. Die ursprünglich passiven Betrachtenden werden so zu Ausführenden, die die Installation durch ihre individuelle Interpretation beeinflussen. Damit hebt der Künstler die Distanz zwischen Publikum und Werk auf und fordert eine Haltung ein.
Eine explizit politische Perspektive schildert Naufus Ramírez-Figueroa (*1978, Guatemala City) mit seiner Performance „Rainbow Action (after Cezary Bodzianowski)“ (2011/2019): Er bemalt seinen Körper mit den Farben des Regenbogens und nimmt dessen Form an, um einen Abdruck an der Wand zu hinterlassen. Als Motiv steht der Regenbogen für Aufbruch, Frieden, Vielfalt und Toleranz. Damit verweist der Künstler auf die bis heute andauernde Unterdrückung von Minderheiten in seiner Heimat Guatemala.
Auf einer freistehenden, rund 4 Meter hohen Raumskulptur, die sich in ihrer Form von der kippen-den Gehry-Architektur des Museums ableitet, werden Sequenzen des Videos „The Fall“ (2004/2019) von Peter Welz (*1972, Lauingen) projiziert. Die Körper zweier Tänzer scheinen fast ungebremst auf den Boden zu treffen, richten sich aber anschließend langsam immer wieder auf. Der Rhythmus und der Sound lassen im Marta-Dom eine Atmosphäre zwischen Beklemmung und Faszination entstehen, während die herabfallenden Körper nah und intensiv erscheinen.

Auch die Besucher*innen selbst sind in der neuen Marta-Ausstellung immer wieder gefordert aktiv Haltung zu beziehen: Bei Führungen und Workshops, aber vor allem auch innerhalb der Eingangsga-lerie können sie das Gefühl des Schwankens und Fallens selbst erleben.
Anlässlich von „Haltung & Fall“ entstand eine enge Zusammenarbeit mit dem Johannes-Falk-
Haus in Hiddenhausen bei Herford, das Kinder und Jugendliche mit besonderem Förderbedarf in ihrer individuellen Entwicklung unterstützt. Diese Kooperation war Anlass für die Umsetzung einer eigenen Rezeptionsebene: So wurden Ausstellungstexte in „Leichter Sprache“ verfasst, also ohne Fremdwörter, abstrakte oder metaphorische Begriffe, um Menschen mit wenig Kompetenz in der deutschen Sprache einen verständlichen Zugang zu Sachverhalten und Zusammenhängen zu ermöglichen.

Unterstützer der Ausstellung sind das bpm Leihhaus Herford sowie die Sparkasse Herford. In Form von Materialien und Dienstleistungen wird die Ausstellung unterstützt von T + A
elektroakustik GmbH & Co. KG und der Nordwestdeutschen Philharmonie. (Text und Bild: Marta)

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